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Viamonda Reisejournal

Baltischer Dreiklang

Estland, Lettland und Litauen haben einiges zu bieten: Drei Hauptstädte von Weltrang, Schmuckkästchen voller mittelalterlicher, hanseatischer und Jugendstilarchitektur, eine überreiche, bunte Geschichte und authentische Naturerlebnisse zwischen Dünen am Meer, in pilzreichen Wäldern und verträumten Seenlandschaften. In den verborgenen Winkeln, wo wenige andere hinkommen, ist es derweil am schönsten.

Kennen Sie Arvo Pärt? Hören Sie mal rein in die moderne klassische Musik des estnischen Komponisten. Sie hat nichts Pompöses, sondern gibt sich filigran, verträumt, geduldig. Sie befreit den Kopf, öffnet das Herz und beruhigt den Geist. Und so wirkt auch das Baltikum abseits der grossen städtischen Zentren.

Die Vogelbeere sollte der Nationalbaum aller baltischen Staaten sein – so allgegenwärtig ist sie in den Ländern. Bevor es Orangen und Zitronen in den Läden zu kaufen gab, war sie – eingemacht oder getrocknet – eine wertvolle Vitamin-C-Lieferantin für die langen und dunklen baltischen Winter.

Urtümlich mit seinen dunklen Wäldern, die sich schier endlos über sanfte Hügel ziehen. Geheimnisvoll, wenn wattiger Nebel über den ausgedehnten Seen und Mooren wabert, und das heisere Krächzen eines Reihers die Stille zerreisst. In sich gekehrt die kleinen Holzhäuser, umkränzt von Blumenstauden, Gemüsebeeten und Vogelbeerbäumchen. In einem solchen wohnt auch Edda mit ihrem Mann und ihrem alten Hund im äussersten Südosten Estlands auf der Farm Mooska.

Duftender Rauch liegt über dem Badeteich der Mooska-Farm: Das Holzfeuer ist hier allgegenwärtig, sei es in der Räucherkammer für Fleisch oder in der Rauchsauna, wenn für Gäste eingeheizt wird.

Neben dem Wohnhaus mit dem tief heruntergezogenen Dach steht eine erste Sauna. Diese dient zum Räuchern von Lamm- und Schweinefleisch. „Wir verwenden Erlenholz, das gibt einen milden Geschmack“, erklärt die Landfrau in perfektem Englisch. „Wir beziehen das Holz von verschiedenen Nachbarn, wir müssen uns hier ja alle unterstützen. Von den 200 Familien, die es in der Gegend noch vor 15 Jahren gab, sind heute nur noch zehn übrig. Da hilft man sich, wo man kann“, führt Edda mit einem bedauernden Schulterzucken aus. Das Fleisch komme aus einer etwa 50 Kilometer entfernten Metzgerei.

„Das frische Fleisch legen wir zunächst für sechs Tage in Salzlake. Danach kommt es für 40 Stunden in die Räuchersauna bei einer Temperatur von 65 bis 75 Grad. Um einen Bakterienbefall zu vermeiden, müssen wir alles peinlich genau kontrollieren und alle zwei bis vier Stunden Holz nachlegen, auch in der Nacht“, erklärt Edda den Arbeitsablauf. Seit 25 Jahren mache sie das mit ihrem Mann bereits, 15 Tonnen Fleisch verarbeiteten sie pro Jahr. Sie hätten einen treuen Kundenstamm, zu dem vor allem Restaurants, aber auch private Kunden gehörten, sagt sie stolz und schneidet eines der armdicken Fleischstücke auf. Zart und leicht rauchig zergeht es uns auf der Zunge.

Rauchsauna-Stillleben mit Feuerholz und Wasserschöpfkellen.

Tiefe Verbundenheit mit alten Geistern

Eddas zweites Standbein sind die weiteren zwei Saunas, die sich in diskretem Abstand um einen kleinen Teich gruppieren. Hier empfängt sie Saunabesucher, die einmal eine echte Rauchsauna erleben wollten. Diese ursprünglichen Saunen haben keinen Kamin. Der Rauch entweicht während des achtstündigen Einheizens durch die offene Tür. Danach werden Bänke und Wände vom Russ gereinigt und sind bereit für den ersten Saunagang. Diesen begleitet Edda in der Regel persönlich.

Sie macht es so wie Generationen von Schamaninnen vor ihr: Sie schliesst die Augen und stimmt ein Beschwörungslied an, um Körper und Geist in Einklang zu bringen, der Sauna zu danken und die Wohltaten des Holzes, des Feuers und des Dampfes zu erbitten. Ihr monotoner Sprechgesang hat etwas Archaisches. Er lässt eine tiefe Verbundenheit mit den Dingen um uns herum erahnen, die in unserer modernen Hektik vollkommen verlorengegangen ist. Achtsamkeit in Reinform. „Alles hat eine Seele, und alles ist gleich wichtig,“ sagt Edda aus tiefster Überzeugung.

Nur dieser unerschütterliche Glaube an ein grosses Ganzes und an die eigene Bedeutung darin kann erklären, dass die drei baltischen Völkchen mit 1,4 Millionen (Estland), 1,9 Millionen (Lettland) und 2,8 Millionen Einwohnern (Litauen) die Stürme der Geschichte, die in dieser Ecke Europas besonders wild gewütet haben, einigermassen intakt überlebt haben.

Das Trennende der Sprachen

Und es ist ja auch nicht so, dass die drei etwa in der Einheit Kraft gefunden hätten, denn sie sprechen zu allem Überfluss auch noch drei unterschiedliche Sprachen. Lettisch und Litauisch sind zwar indogermanische Idiome, so wie Deutsch und Französisch auch, aber so wie sich Deutsche und Franzosen nicht verstehen, so haben sich auch Lettisch und Litauisch über die Jahrhunderte so weit auseinanderentwickelt, dass sie einander fremd geworden sind. Estnisch seinerseits ist eine finnougrische Sprache, also verwandt mit Ungarisch und besonders eng mit Finnisch. Da Estnisch weder über ein grammatikalisches Geschlecht noch über eine Zukunftsform verfügt, witzeln Letten und Litauer gerne, die Esten hätten „no sex, no future“.

Eigentlich ist das Baltikum sandig und flach, doch haben es vor Jahrmillionen einige riesige Felsblöcke auf dem Rücken von Gletschern von Skandinavien her bis an die estnische Ostseeküste geschafft.

Noch mehr Trennendes findet sich in der Geschichte und der Religion: Während die Litauer eher den Polen zuneigen, mit denen sie einst ein stolzes Grossfürstentum gebildet hatten, und auch deren strengen Katholizismus praktizieren, haben die Letten eher ein Faible fürs Deutsch-Hanseatische und dessen protestantischen Arbeitsethos. Die Esten wiederum sind mehrheitlich konfessionslose Pragmatiker, die ihr Glück in einer Zuwendung zu Finnland sehen.

Die wiederaufgebaute Wasserburg von Trakai zeugt von einer kriegerischen Vergangenheit, als Litauen mit Polen ein mächtiges Grossfürstentum bildete, das es zu verteidigen hab. Heute umgibt sie eine friedliche und malerischen Seenlandschaft.

Das Einende der Musik

Ein Grund, weshalb es den drei Minivölkern dennoch gelungen ist, ihre jeweiligen Sprachen und damit ihre einzigartige Identität lebendig zu erhalten, obwohl sie während Jahrhunderten abwechselnd von fremdsprachigen Grossmächten wie den Dänen, den Schweden, den Polen, den Deutschen und zuletzt den Russen dominiert wurden, ist ihr traditionelles Liedergut.

Nationale Sängerfeste, an welche Hunderttausende Besucher pilgern und wo Chöre und Dirigenten wie Popstars gefeiert werden, sind fester Bestandteil des Kulturkalenders. Auch den Sowjets gelang es nicht, solche Anlässe zu unterbinden, und sie mussten es zuweilen sogar hinnehmen, dass dabei verbotene Lieder gesungen wurden. Hunderttausend Sänger kann man nicht einfach so zum Schweigen bringen, und den Schuldigen, der das Lied angestimmt hat, wird man kaum finden. So wurde Musik in den baltischen Staaten über die Jahre zu einer machtvollen, gewaltlosen Demonstration der Eigenständigkeit.

Mit seinen gläsernen, zarten Tönen spielt Arvo Pärt da auf einer anderen Klaviatur. Seine Musik weiss um die Ewigkeit: Sie horcht in sich hinein, insistiert auf sich wiederholenden Motiven mit nur leichten Variationen, spinnt den Faden weiter und weiter und weckt damit dasselbe Gefühl von Vollkommenheit und Kontinuität, wie es auch die Schamanin Edda heraufbeschwört hatte.

Text und Bilder von Lucie Paska. Die freie Journalistin war im Sommer 2024 mit Vögele Reisen im Baltikum unterwegs.

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